Aus der Kolumne „Gott und die Welt“ (Hamburger Abendblatt) für den 25./26.01.2025, von Hauptpastor und Propst Dr. Martin Vetter
Nur die Sterne waren wie gestern
Henryk Mandelbaum begegne ich auf Fotos in einer Ausstellung im Mahnmal St. Nikolai: ein jüdischer Häftling aus Polen. Auf einem der Fotos trägt er eine Windjacke und einen schützenden Hut. Verschmitzt lächelt er in die Kamera. Der rechte Arm ist ausgestreckt, die Hand geballt zur Faust. Als fordere er wie ein Boxer die Betrachtenden auf, mit eigener Faust dagegen zu halten. Im Bildhintergrund ragen vier geziegelte Schornsteine in den Himmel. Das Foto zeigt Henryk Mandelbaum im Winter auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau. Dorthin kam er Ende 1944 mit einem Gefangenentransport. In einer Baracke tätowierte man ihm die Häftlingsnummer in den Unterarm, schor sein Haar. Geschockt von dem, was Mandelbaum sah, versetzte der 21-jährige Mann dem diensthabenden Kapo einen Hieb mit der Faust. Dieser Schlag im Affekt hätte der Anfang vom Ende sein können. Doch Mandelbaum überlebt den Streit. Die nächste Station ist das Quarantänelager, Block 7. Dort sucht ein SS-Mann ihn aus. Er wird im Sonderkommando in den Krematorien eingesetzt.
Ausschwitz – als Erinnerungsort und Symbol des Schreckens hat der Name allgemeine Geltung. Was in dem größten Konzentrations- und Vernichtungslager geschah, lässt sich nur mühsam in Worte fassen: Die planvolle Unterdrückung, Entwürdigung und industriell organisierte Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Menschen. Orte wie Auschwitz erinnern uns, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig sind. Vor achtzig Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die sowjetische Armee die letzten 7000 Häftlinge des Lagers.
Auch Henryk Mandelbaum überlebt das Lager auf einem der sogenannten Todesmärsche Richtung Westen. Nach Kriegsende kehrt er an den Ort des Schreckens und der Verbrechen zurück. Später meldet er sich als Augenzeuge bei der Wahrheitsfindungskommission. „Es freut mich, dass ich noch die Kraft habe, von diesem Inferno zu erzählen“, lese ich auf einer Tafel der Ausstellung. Doch Mandelbaum ist nun ein anderer als der junge Mann, der Auschwitz-Birkenau erstmals betrat: „Nachts kommt das alles wieder zurück. In den Träumen. Die Leichen“. Bis auf seine Schwester Ewa, die in die USA fliehen konnte, verliert er seine gesamte Familie. Er verliert auch seinen Glauben.
Heute, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ist Antisemitismus in Deutschland und international ein Problem. Henryk Mandelbaums Lebensgeschichte sagt mir: Nie wieder ist heute! Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Hauptpastor und Propst Dr. Martin Vetter